Terror-Tippspiel: Eine Frage des Anstands
Bei einem Anschlag in Berlin sind nach derzeitigem Stand zwölf Personen getötet und bis zu fünfzig verletzt worden. Ja, bei einem Anschlag. Dass daran kein Zweifel mehr besteht, so Innenminister Thomas de Maizière, haben die laufenden Ermittlungen ergeben. Am vergangenen Abend handelte es sich dabei allerdings noch um Vermutungen, was viele Kommentatoren in den Sozialen Netzwerken jedoch nicht davon abhielt, Schuldige zu suchen und politische Forderungen in den Raum zu stellen. Das ist nicht nur postfaktisch (genau genommen eigentlich prä-faktisch), sondern vor allem auch respektlos.
Natürlich können sich jene, die schon gestern von islamistischem Terror sprachen, heute durch die erweiterte Faktenlage auf die Schulter klopfen. Bravo, richtig gelegen – herzlichen Glückwunsch! Das ändert aber nichts daran, dass ihr gestern keine Information geteilt habt, sondern eine Emotion. Was die Rettungs- und Einsatzkräfte nicht wussten, war euch natürlich sofort klar: „Das muss doch ein Musel gewesen sein!!11!1“.
Wenige Minuten schon, nachdem überhaupt bekannt wurde, dass es in Berlin zu einem Zwischenfall mit Toten kam, postete Jean-Pascal Hohm (AfD) die Worte „Danke, Merkel!“ auf seine Facebook-Seite. Zur selben Zeit forderte Rainer Wendt (Vorsitzender der deutschen Polizeigewerkschaft) in einem Interview mit N24 die Lockerung von Gesetzen zum Datenschutz und die Schaffung zusätzlicher Befugnisse für die Polizei.
Ich fasse zusammen: In Berlin sind gestern mindestens neun Menschen gestorben. Das wusste man. Die Umstände aber waren unklar. Es lagen weder bestätigte noch unbestätigte Informationen zur Identität und Motivation des Täters vor. Und doch wollten einige schon ganz genau wissen, wer Schuld hat und was jetzt zu tun ist. Da hat man nicht auf Fakten oder gesicherte Informationen gewartet. Das hat man aus dem Bauch heraus entschieden. Vor dem Computer sitzend hat man seine Wahrheit gebaut. Und veröffentlicht.
Für mich ist vollkommen irrelevant, dass sich diese einen Tag später als teilweise korrekt herausstellte. Für mich spielt eine Rolle, dass gestern massenhaft Spekulationen und ungesicherte Informationen geteilt wurden – und man eine schreckliche Tragödie zum politischen Tippspiel degradiert hat.
Die gestrigen Ereignisse sind schrecklich und wiegen schwer. Doch wer es nicht aushält, mit den politischen Schlüssen einen Tag zu warten, sondern innerhalb von fünf Minuten die Profilierung sucht, der sollte sich schämen. Das ist eine Frage des Anstands, und eine Frage des Respekts.
Auch in 2016.
20. Dezember 2016